… und wir leben

Der Four-Miles-Trail ist ein bekannter Wanderpfad im Yosemity National Park. Vom Glacoer Point, einem der spektakulären Aussichtspunkte, schlängelt er sich etwa 1000 Höhenmeter bis ins Valley hinunter.

Nicht gerade für Rollstuhlfahrer geeignet, aber auch nicht besonders anspruchsvoll. Wir lassen uns von einem Shuttlebus hochfahren und erfahren noch einiges über den Park, z. B. als bedeutender internationaler Treffpunkt für Kletterer und Highline-Artisten.

Aufgrund des schönen Sonnenscheins im Tal, haben wir unsere Regenjacken nicht eingepackt. Oben empfängt uns ziemlich heftiger Wind und einige Regentropfen. – Wir hätten damit rechnen können!

Also machen wir uns zügig an den Abstieg – und ich bemühe mich kräftig, meiner Höhenangst nicht allzu viel Raum zu geben.

Nach einer Weile bemerken wir einen Hubschrauber, der ziemlich niedrig und in unsere Richtung fliegt. Klar, die suchen jemanden.

Ich erinnere mich daran, dass mein Vater vor einigen Jahren bei einer Bergwanderung unglücklich gestürzt ist. Auch er, der im Leben in kein Flugobjekt steigen wollte, wurde damals mit einem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen…

Dieser Helikopter bleibt er ein Stück über uns und etwa 50 m entfernt „stehen“. Während Andreas Fotos am Abgrund macht, beobachte ich, wie sich erst ein Mann an einem Seil herunterlässt, dann noch ein zweiter. Offensichtlich ist etwas Ernsthaftes passiert.

Wir gehen weiter. Im Rückblick sehe ich diesen Wegabschnitt wie eine Serie einzelner Fotos vor mir ablaufen. Zuerst sehe ich den Sanitäter, der uns winkt, zügig weiter zu gehen. Dann fällt mir die junge Frau auf, die neben dem Weg liegt. Ich sehe ihr schwarweißes Sportoutfit, die schlanke Figur. Ein paar Schürfwunden am Rücken. Warum liegt sie so still? Als ob sie sehr tief schliefe, auf dem Waldboden … Ein junger Mann steht neben ihr. Niemand hält ihre Hand oder redet mit ihr. – Zwei Schritte weiter: noch ein Sanitäter, noch ein junger Mann und dann: noch ein Mädchen. Rotblonde Locken, weißes T-Shirt, bunte Shorts. Oberkörper und Beine sind in unterschiedliche Richtungen verdreht. Wie eine achtlos hingeworfene Puppe liegt sie da, das Gesicht der Erde zugewandt. In meinem Geist schiebt sich langsam in schwarzen Lettern das Wort „tot“ über das weiße T-Shirt.

Wir gehen weiter. Müssen weiter. Ich will nicht stehen bleiben, erlaube mir nicht zu weinen, sehe nur immer wieder diese Bilder vor mir.

Andreas meint, es sei ein Baum gewesen. Ja, stimmt, da war so etwas wie ein zersplitterter Baumstamm. Sie wurden von einem umstürzenden Baum erschlagen. Keine Unachtsamkeit, kein waghalsiges Unterfangen, nichts, was man diesen Mädchen vorhalten könnte.

Warum passiert so etwas?

Ich denke an die jungen Männer, die sie gefunden haben, die Eltern, Freunde, all die Helfer, die uns auf dem weiteren Weg nach unten entgegenkommen mit Tragen, und dann auch mit Motorsägen …

Auch uns hätte es treffen können. Ich brauche die Nacht und mehr, um auch das den unbegreiflichen Mächten anzuvertrauen. Und mich zur Dankbarkeit durchzuringen: Wir leben! Unser Weg geht weiter.

6 Anmerkung zu “… und wir leben

  1. Deborah Müller

    oh wow… ja, in solchen Momenten wird einem bewusst, wie wertvoll das Leben ist – und wie schnell und ohne eigene Schuld es zu Ende sein kann…

    Schlimm v.a. für all jene, die zurückbleiben (müssen)!

    sehr berührend…, sehr traurig

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  2. Martin

    Sehr berührend geschrieben, Danke liebe Stefanie. Das Leben drückt sich aus – so und so und so und so. Und eben auch so. Ich bin dabei, das zu akzeptieren, es anzunehmen. Schmerz und Zerstörung gehören hier wo wir leben dazu. Widerstand macht für mich Leiden daraus. Ich empfinde es als eine meiner Lebensaufgaben zu lernen, trotz dem nahe beim inneren Frieden zu bleiben, bei der inneren Liebe, bei der inneren Freude – und beim inneren Mitgefühl.

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    1. Stefanie Autor des Beitrags

      Ja, lieber Martin, danke! Das klingt tröstlich und wirkt dem Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein entgegen:
      Es ist unsere „Aufgabe, trotzdem nah beim inneren Frieden … und der inneren Freude zu bleiben…“

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